November: Goldene Taubnessel (Lamium galeobdolon / Lamium argentatum)

"Im purpur- und schwarzroten Laube kauern die dunkelgrünen, mit grauen, raupenähnlichen Flecken besetzten Blätter der goldenen Taubnessel..." Bukolisches Tagebuch, 5. November 1928

Auf den ersten Blick werden sie oft mit den Brennesseln verwechselt, mit denen sie außer der Gestalt der Blätter aber nichts gemein haben und mit denen sie auch gar nicht weiter verwandt sind. Die Taubnesseln gehören zur artenreichen Familie der Lippenblütler und im Gegensatz zu ihren Namenschwestern besitzen sie gar keine Brennhaare, sind also "taub" und harmlos. Während die Blüten der Brennessel klein, grün und unscheinbar sind und vom Wind bestäubt werden, bilden die Taubnesseln attraktive Blüten mit einer klaren Rücken-Bauch-Asymmetrie aus (in der Botanik spricht man von dorsiventralen Blüten).

Addressaten für diese Pracht sind Hautflügler, also Bienen und Hummeln, die intelligentesten Insekten, die eine Vielzahl von Formen, Farben, Mustern und auch Düften in einem besonderen Teil ihres Gehirns, dem Pilzkörper, verarbeiten und mit ihren langen Rüsseln den tief im Schlund der Blüte verborgenen Nektar erreichen können. Damit die Bestäuber den Weg finden, sind auf der großen "Unterlippe" der Goldnesselblüte orangerote Markierungen angebracht. Die Staubgefäße mit dem Pollen liegen in der helmartig aufgewölbten Oberlippe und werden ähnlich wie beim ebenfalls zu den Lippenblütlern gehörenden Wiesensalbei durch einen Hebel heruntergedrückt, wenn die Biene, den Markierungen folgend, in den Blütenschlund hineinkriecht. Durch diesen, bei den Lippenblütlern mehrfach entstandenen, Hebelmechanismus wird dann der Pollen auf den Hinterleib der Biene aufgetupft, von wo er bei der nächsten besuchten Blüte vom Griffel aufgenommen werden kann.

Wie alle Lippenblütler - von dieser Familie sind mehr als 8000 Arten bekannt - neigen auch die Taubnesseln zur schwelgerischen Neubildung von Arten. Neben den weißen und purpurnen Taubnesseln gibt es daher nicht nur eine Goldene Taubnessel, sondern gleich mehrere davon. Außer der Gewöhnlichen Goldnessel (Lamium galeobdolon), die in ganz Europa bis nach Persien vorkommt, gibt es also noch zahlreiche Varianten, die je nach Autor als eigene Arten oder Unterarten angesehen werden. Die von Lehmann angesprochenen silbernen Muster auf den Blättern deuten darauf hin, dass er hier die Silberblättrige Taubnessel (Lamium argentatum) beschrieben hat, bei der Gewöhnlichen Goldnessel sind diese Muster, wenn überhaupt, nur ganz zart in der Winterzeit angedeutet.

Neben ihren sehr nektarreichen Blüten, die nicht nur bei Bienen, sondern auch bei herumstreunenden Kindern sehr beliebt sind (im Süddeutschen kennt man die Pflanze daher auch unter dem Namen "Honigsaug"), sind alle Teile dieser Pflanze nutzbar. Aus den Blättern kann man ein schmackhaftes, an Spinat erinnerndes Gemüse zubereiten und sogar die Wurzeln sind schmackhaft und essbar. Ein Aufguss aus Blättern und Blüten ist entzündungshemmend und harntreibend. Die Wirkung hängt vermutlich mit dem Inhaltsstoff Aucubin zusammen, der nicht nur Entzündungen unterdrückt, sondern auch Schimmelbildung verhindert. Dies erlaubt es der Goldnessel, wie Lehmann es sehr treffend dargestellt hat "im purpur- und schwarzroten Laube", also inmitten einer verrottenden und von Pilzen geradezu wimmelnden ("An allen Stellen quellen Pilze") Umgebung seine Blätter grün und frisch zu erhalten.

____________________________________________________________________________________

ZUR SAMMLUNG DER BOTANISCHEN TAGEBUCHEINTRÄGE VON WILHELM LEHMANN (pdf)