Gnetum gnemon (Gnetum-Baum)

Karlheinz Knoch
Unser Gnetumbaum kann sich nicht so richtig entscheiden, was er ist. Aber die Blüten sind dennoch nie zwittrig.
Der Archaefructus wurde 1998 in China entdeckt und ist der älteste bisher bekannte Bedecktsamer. Er ähnelt Gnetum in vielerlei Hinsicht.

Verborgene Schätze

Im Eingangsbereich steht er als etwa vier Meter hoher Baum mit glänzenden Blättern und wird von den Meisten vermutlich übersehen: unser Gnetumbaum (ein weiteres Exemplar steht im Tropenhaus). Manchmal kommen Wissenschaftler angereist, um von diesem Baum Material für Genanalysen zu entnehmen - dieser Baum genießt nämlich unter Botanikern eine gewisse Berühmtheit und ist ausserhalb seiner Heimat Südostasien und Ozeanien nur selten anzutreffen. Auf den ersten Blick ähnelt er einem stattlichen Kirschlorbeer, aber das täuscht gewaltig: Der Gnetumbaum ist nämlich ein Nacktsamer, also ein Verwandter unserer Nadelbäume. Kaum zu glauben - die Blätter sind netznervig, wie es für die Blütenpflanzen typisch ist. Gnetum ist ein lebendes Fossil und trotz seines recht alltäglichen Erscheinungsbild eine ziemliche Sensation. Seine nächste Verwandter, die völlig irreal anmutende Welwitschia trägt ihre evolutionsbiologische Exotik unverhüllt zur Schau. Bei Gnetum muss man genauer hinsehen:

Die Samenanlagen sind nicht im Innern eines Fruchtknotens verborgen wie bei den echten Blütenpflanzen (die darum Bedecktsamer heißen), sondern liegt frei, so wie die Samenanlagen unserer Nadelbäume frei auf den Schuppen des Zapfens exponiert sind. Ähnlich wie andere urtümliche Nacktsamer (unsere Welwitschia ist zum Beispiel ein Junge) gibt es weibliche und männliche Bäume. Eigentlich sollte unser Gnetum auch getrenntgeschlechtlich (zweihäusig) sein, unser Exemplar hat sich da aber noch nicht ganz entschieden, manche Zweige sind männlich, manche weiblich und gelegentlich kann man auch Zweige finden, wo männliche und weibliche Geschlechtsorgane zu finden sind. Freilich gibt es keine zwittrigen Blüten, eine Blütenanlage entscheidet sich also für ein bestimmtes Geschlecht.

 

Ein botanischer Archaeopteryx

Warum ist Gnetum spannend? Weil er ganz klar ein Nacktsamer ist, der aber schon typische Eigenschaften der Bedecktsamer aufweist und auf den ersten Blick für eine Magnolie oder einen Lorbeerbaum gehalten werden könnte. Wir haben hier also ein sogenanntes missing link vor uns. Damit bezeichnet man Formen, die den Übergang zwischen zwei Gruppen aufweisen. Das wohl berühmteste missing link war der Urvogel Archaeopteryx, an dem man den Übergang von den Reptilien zu den Vögeln sehr gut nachvollziehen kann. Solche missing links haben teilweise "alte" und teilweise "neue" Merkmale. Der Archaeopteryx besaß etwa eine Reptilienschnauze aber schon richtige Vogelfedern. Der Gnetumbaum sitzt auf eine ähnliche Weise zwischen allen Stühlen. Gibt es Bedecktsamer, die ihm ähnlich sehen? Unter den lebenden Pflanzenarten nicht - aber 1998 entdeckte man in China einen fossilen Bedecktsamer, den man auf den Namen Archaefructus taufte und der älter war als alle anderen Bedecktsamer, die man bisher gefunden hat. Dieser Archaefructus sieht unserem Gnetum frappierend ähnlich, war freilich kein stattlicher Baum, sondern eine amphibisch lebende Pflanze. Es gibt aber auch in der Gattung unseres Gnetumbaums strauch- und halbstrauchartige Vertreter, selbst nahe Verwandte können sich hinsichtlich ihrer Wuchshöhe unterscheiden. Viele Details der Blüte und der Blätter sind dagegen sehr ähnlich. Was aber das überzeugendste Argument für unseren "botanischen Archaeopteryx" ist: Gnetum verfügt schon über eine primitive Form der sogenannten doppelten Befruchtung, ein Phänomen, das man nur bei den Bedecktsamern (den Blütenpflanzen) findet: Während bei allen anderen Lebewesen eine Samenzelle mit einer Eizelle verschmilzt und so den neuen Organismus hervorbringt, gibt es bei den Blütenpflanzen eine zweite Befruchtung, wo eine zweite Samenzelle (die im Pollenschlauch mit der ersten mitgewandert ist) mit zwei Zellen des weiblichen Embryosacks verschmilzt, woraus dann das sogenannte Endosperm hervorgeht, das den wachsenden Embryo wie eine Art Placenta ernährt. Beispielsweise geht der Mehlkörper unserer Getreide aus dieser zweiten Befruchtung hervor. Dass ein derartig skurriles Phänomen zweimal in der Evolution unabhängig voneinander entstanden sein soll, ist schwer zu glauben. Daher wertet man die doppelte Befruchtung von Gnetum als starken Beleg dafür, dass unsere Blütenpflanzen aus dieser Gruppe hervorgegangen sein muss. Dass die Gattung Gnetum uralt ist, kann man auch daran sehen, dass sie nicht nur in Südostasien und Ozeanien vorkommt, sondern auch in tropischen Gebieten Afrikas und Südamerikas. Dies wird so gedeutet, dass Gnetum schon vor dem Auseinanderdriften der Kontinente in dem Urkontinent Pangaea gelebt hat und dann in verschiedene Untergruppen zerrissen wurde.

 

Unser Gnetumbaum in der Forschung

Mithilfe unserer Gnetum-Bäume herausgefunden, woher die sogenannten MADS-Box Gene stammen, das sind Gene, die in den Blütenorganen angeschaltet werden und dafür verantwortlich sind, dass aus einem Blütenblatt ein Kron- oder ein Kelch-, ein Staub- oder ein Fruchtblatt wird.

 
Publikationen, die so entstanden sind:
  • Becker, A., Winter, K.U., Meyer, B., Saedler, H., Theißen, G. (2000) MADS-Box Gene Diversity in Seed Plants 300 Million Years Ago. Mol. Biol. Evol. 17, 1425-1434 - es wird gezeigt, dass schon vor 300 Millionen Jahren, also noch früher als man es fossil nachweisen kann, die später für die Blütenorgane wichtigen Gene schon vorhanden waren.

  • Becker, A., Bey, M., Bürglin, T.R., Saedler, H., Theißen, G. (2002) Ancestry and diversity of BEL1-like homeobox genes revealed by gymnosperm (Gnetum gnemon) homologues. Dev. Genes Evol. 212, 452-457 - ein Blühgen, das man bisher nur von den Blütenpflanzen kannte, ist bei Gnetum gnemon schon vorhanden und die verschiedenen Abschnitte, die dieses Gen für seine Funktion braucht, sind erhalten. Es steht daher zu vermuten, dass dieses Gen eine ähnliche Funktion hat.

  • Becker, A., Kaufmann, K., Freialdenhoven, A., Vincent, C., Li, M.A., Saedler, H., Theißen, G. (2002) A novel MADS-box gene subfamily with a sister-group relationship to class B floral homeotic genes. Mol. Genet. Genomics 266, 942-950 - eine Gruppe von Blühgenen, das die Bildung von Kron- und Staubblättern steuert, ist schon bei Gnetum gnemon nachgewiesen. Das zeigt, dass schon sehr früh in der Evolution selbst die genetischen Details der Blütenbildung vorhanden waren (obwohl die Blüten in dieser Form noch gar nicht existierten). In der Evolutionsbiologie spricht man von Präadaptation (Vor-Formung - etwas ist schon angelegt und wird für etwas anderes genutzt und dann "umdefiniert").