März: Bingelkraut (Mercurialis perennis)

Bingelkraut
„Gekrümmt, die Arme an den Leib gedrückt, möglichst dünn, zagt das Bingelkraut mit gelbgrünen Knospen unter der unwillig weichenden Last des grausamen Winters.“ Bukolisches Tagebuch, Ostern 1929

Im zeitigen Frühjahr dringt in feuchten und schattigen Buchenwäldern das Bingelkraut als eine der ersten Pflanzen ans Licht. Den Winter überlebt es als weit verzweigtes Gebilde aus Kriechsprossen, sogenannter Rhizome, an denen noch im Erdreich die gesamte Pflanze schon vorgebildet ist. Während die Pflanze ans Licht dringt, schmiegen sich die schon vollständig angelegten Blätter dem sich streckenden Stängel an und sind so während des Weges durch das Erdreich geschützt – Lehmanns Beschreibung der „an den Leib gedrückten Arme“ ist also sehr zutreffend. Selbst die unscheinbaren, gelbgrünen Blüten sind schon angelegt. Durch diese Strategie kann das Bingelkraut das Sonnenlicht des zeitigen Frühjahrs nutzen. Wenn sich ab Mai die Laubdecke des Buchenwaldes schließt, bleibt ihm nämlich nur noch wenig Licht, um Photosynthese zu betreiben. Von der im zeitigen Frühjahr angehäuften Energie zehrt die Pflanze also das gesamte Jahr.

 

Es ist im Grunde erstaunlich, dass eine so unscheinbare Pflanze, die ein Nischendasein führt, schon seit Vorzeiten die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich gezogen hat. Der Grund dafür ist ihre ausgeprägte Geschlechtlichkeit: Während die meisten Pflanzen Zwitter sind, bei denen männliche und weibliche Organe in einer Blüte vereinigt stehen, ist das Bingelkraut zweihäusig, es gibt also männliche und weibliche Pflanzen. Inzwischen hat man herausgefunden, dass das Geschlecht, ähnlich wie beim Menschen, genetisch festgelegt ist. Ebenso wie beim Menschen wird dieses genetische Geschlecht dann über Veränderungen des Hormonhaushalts ausgeprägt – anstelle von Testosteron und Östrogen sind es hier freilich sogenannte Cytokinine, deren Pegel sich bei männlichen und weiblichen Pflanzen unterscheidet. Die traditionelle Intuition, dass die Geschlechtlichkeit dieser Pflanze jener des Menschen ähnelt, hat sich also bewahrheitet.

 

Der deutsche Name leitet sich vermutlich von einem alten Wort für Hoden ab und bezieht sich wohl auf die paarig stehenden, behaarten Früchte. Plinius der Ältere berichtet, dass diese Pflanze durch den Götterboten Merkur entdeckt wurde. In der Antike glaubte man, dass eine werdende Mutter durch einen Sud aus männlichen oder weiblichen Pflanzen das Geschlecht ihres Kindes bestimmen könne. Man vermutet daher, dass diese Pflanze auch als Ware (merx) gehandelt und daher mit Merkur als Gott des Handels in Verbindung gebracht wurde.

 

Diese Anwendung sei jedoch nicht zur Nachahmung empfohlen - die in der Pflanze angehäuften Trimethylamine lösen Erbrechen und Durchfall aus. In der Volksmedizin wurde das Bingelkraut daher zum Austreiben von Würmern eingesetzt. Da die Wirkung jedoch nicht leicht zu kontrollieren ist, ist das später aus der Mode gekommen. Gelegentlich kommt es vor, dass Vieh nach Verzehr größerer Mengen verendet. Seit einigen Jahren erlebt das Bingelkraut eine Renaissance bei der Behandlung von schlecht heilenden Wunden und Hämorrhiden.